Zwei Patienten, ein Beatmungsgerät – und nun?

07. September 2020

Mit Covid-19 kam die Thematik der Triage-Gerichte erneut auf. Braucht es diese und wie wichtig ist lebenslanges Lernen für Mediziner? Ein Interview mit Medizinrechtsexperte Prof. Dr. Erik Hahn. Als Triage bezeichnet man das Sichten und Klassifizieren von Patienten. Diese richtet sich vor allem nach der Erfolgsaussicht und der Dringlichkeit der Behandlung. Ursprünglich aus der Wehrmedizin stammend, ist sie im Zuge der Corona-Pandemie zu einem allgemein diskutierten Thema geworden. Gesetzlich reguliert ist die Frage, wer sollte bei einer Überforderung des Gesundheitssystems zuerst behandelt werden, bis heute nicht.

Herr Prof. Dr. Hahn, Ärzte müssen täglich Entscheidungen treffen. Im Katastrophenfall – oder einer Pandemie, wie wir sie dieses Jahr erleben – müssen sie unter Druck und mit knappen Ressourcen umgehen. Wer entscheidet denn, wer behandelt wird und wer nicht?
Unabhängig vom Vorliegen einer Katastrophensituation kann die Sichtung und Priorisierung von Patienten nur durch Ärzte erfolgen. Maßgeblich sind dabei in erster Linie medizinische Kriterien wie die Erfolgsaussichten und die Dringlichkeit der Behandlung. Das kann auch in einem Notfall nur ärztlich beurteilt werden. Wie in jeder anderen Lebenssituation schützt das den Arzt natürlich nicht davor, dass die Rechtmäßigkeit der von ihm getroffenen Entscheidung im Nachhinein juristisch überprüft wird.

Welche rechtlichen Fragestellungen hat die Corona-Pandemie aufgeworfen?
Bei einem großen Bahnunglück muss der Notarzt noch am Unfallort entscheiden, welche der verletzten Personen er zuerst behandelt, welche noch etwas warten können und – schlimmstenfalls – welche Betroffenen trotz bestmöglichen Bemühens keine Chance auf Rettung haben. In der Corona-Situation kann es sein, dass zunächst ein mittelgradig behandlungsbedürftiger Patient an eine lebenserhaltende Maschine angeschlossen wurde und nun ein weiterer noch dringender behandlungsbedürftiger Patient in das Krankenhaus eingeliefert wird. Hier stellt sich die Frage, ob die Behandlung des ersten zu Gunsten des zweiten Patienten eingestellt oder zumindest reduziert werden darf. Noch gravierendere Probleme wirft die Frage auf, ob ein Patient mit geringeren Heilungschancen bei einem Mangel an Beatmungsgeräten zu Gunsten eines anderen Patienten mit größeren Heilungschancen wieder abgeschlossen werden darf. Eine Auswahl nach Dringlichkeit und Erfolgsaussichten bei der Aufnahme der Behandlung wird unter Medizinrechtlern weitgehend akzeptiert, da die Rechtsordnung von niemandem Unmögliches verlangen kann. Dagegen lehnen gewichtige Stimmen – unter anderem der Deutsche Ethikrat – das Recht des Arztes ab, einen bereits angeschlossenen Patienten nach den genannten Kriterien zu Gunsten eines anderen wieder von der Maschine zu entfernen.

Wie beurteilen Sie das Konzept des Ethikrates?
Die strikte Differenzierung zwischen aktivem Tun und Unterlassen überzeugt mich nicht. Sie entspricht auch nicht der Parallelentwicklung bei der Umsetzung von Patientenverfügungen. Der Ethikrat verweist darauf, dass ein Arzt, der in einer solchen Lage eine Gewissensentscheidung trifft, wohl auf eine entschuldigende Nachsicht der Rechtsordnung hoffen könne. Dieses Konzept enthält allerdings noch so viele Fragezeichen, dass es den tatsächlich entscheidenden und dann eventuell von Strafverfolgung bedrohten Arzt kaum beruhigen dürfte. Tragfähiger werden diese Überlegungen allenfalls, wenn man das Prinzip des Zufalls akzeptiert und dessen nachträgliche Korrektur ablehnt. Ein Patient, der kurz vor einem anderen Patienten den letzten freien Beatmungsplatz erhielt, hat nach diesem Konzept ebenso Glück gehabt wie ein Organempfänger, der im entscheidenden Zeitpunkt die besseren Kriterien aufweist als andere Personen auf der Warteliste.

Braucht es aus Ihrer Sicht Triage-Gerichte?
Triage-Gerichte bringen aus meiner Sicht keine substanzielle Verbesserung. Ohne Zweifel befindet sich der Arzt in einem ethischen Dilemma. Dieses Problem kann jedoch auch ein spezielles Triage-Gericht nicht auflösen. Die Idee der Errichtung solcher Gerichte geht auf Überlegungen zurück, die zum einen – überzeugend – die generelle moralische Überlegenheit von Ärzten bezweifelt, jedoch zum anderen – nicht überzeugend – mit dem Argument der demokratischen Legitimation spezielle Entscheidungsgremien gefordert haben. Meines Erachtens wird so das Problem nur verlagert, wenn nicht sogar verschleiert. Die Gerichte müssten sich bei ihrer Entscheidung wieder auf eine ärztliche Einschätzung der medizinischen Situation, insbesondere nach Dringlichkeit und Erfolgsaussichten, stützen.

Nun gibt es den Ruf nach der gesetzlichen Regelung von Triage-Kriterien.
Gesetze sind in erster Linie nicht für Juristen, sondern für Rechtsanwender gemacht. Insofern spricht meines Erachtens nichts dagegen, die genannten Kriterien im Sinne der Transparenz in Gesetzesform zu gießen. Ähnliche Entwicklungen sind etwa aus dem Bereich der Patientenrechte bekannt.Es ist zweifellos wichtig, juristische Konzepte für den schlimmsten Fall vorzuhalten. Es gibt aber zumindest derzeit keinen Grund, die in einer solchen essenziellen Frage immer erforderliche Debatte in der Gesellschaft mit dem Verweis auf die aktuelle Pandemie abzuwürgen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner aktuellen Entscheidung vom Juli keinen Eilbedarf in dieser Sache gesehen.

In der juristischen Diskussion sind sich die Experten lediglich einig darüber, dass es keine umfassend zufriedenstellende Lösung gibt und, wenn sie denn getroffen werden muss, die betroffenen Ärzte mit der Entscheidung nicht allein gelassen werden dürfen. Was wäre Ihr Lösungsansatz?
Nach meiner Auffassung muss der wissenschaftliche und der gesellschaftliche Diskurs um akzeptierte Entscheidungskriterien massiv vorangetrieben werden. Im Anschluss können diese Kriterien über die entsprechenden Fachverbände und Kammern als Orientierungsgrundlage kommuniziert werden. Erst wenn sich hier wirklich ein Konsens abzeichnet, kann darüber nachgedacht werden, diese Kriterien in die Form eines Gesetzes zu gießen. Gerade die emotional angeheizte Situation in dieser Frage spricht allerdings dafür, diesen Schritt frühestens nach der Bewältigung der Corona-Pandemie anzugehen.

Situationen wie die aktuelle zeigen, dass ein Arzt zunehmend mehr sein muss, als ein reiner Mediziner. Welches Wissen sollte Ihrer Meinung nach zur Aus- und Weiterbildung dazugehören?
Das Gesundheitswesen ist wie andere Bereiche stark durchreguliert. In erster Linie müssen Ärzte natürlich eines sein: gute Ärzte. Allerdings ist es nicht nur für Ärztinnen und Ärzte in Führungsposition wichtig, den gesetzlichen Rahmen des eigenen Berufsumfeldes zu kennen. Eigentlich sollte das Medizinrecht daher heute – ebenso wie etwa die Medizinethik, die Medizingeschichte und die Gesundheitsökonomie – zum Curriculum jedes Medizinstudiums gehören. Da dieses nicht in hinreichendem Maße gegeben ist, sollten sich Ärztinnen und Ärzte zumindest mit den Grundregeln des Medizinrechts vertraut machen.

Vielen Dank Herr Prof. Dr. Hahn für das Interview.

    

Prof. Dr. Erik Hahn ist Professor für Zivilrecht, Medizinrecht, Wirtschafts- und Immobilienrecht an der Hochschule Zittau/Görlitz, lehrt in einem Kooperationsstudiengang mit dem Internationalen Hochschulinstitut der TU Dresden und ist stellvertretender Direktor des Görlitzer Instituts für Gesundheit, Altern und Technik. An der Dresden International University ist er Dozent für Medizinrecht, Zivilrecht und Sozialrecht in den Masterstudiengängen „Medizinrecht“ sowie „Wirtschaft und Recht“.

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